Der WandererWetzlar 1772Wandrer.Gott segne dich, junge Frau,Und den säugenden KnabenAn deiner Brust!Lass mich an der Felsenwand hierIn des Ulmbaums SchattenMeine Bürde werfen,Neben dir ausruhn.Frau.Welch Gewerb treibt dichDurch des Tages HitzeDen staubigen Pfad her?Bringst du Waren aus der StadtIm Land herum? —Lächelst, Fremdling,Über meine Frage?Wandrer.Keine Ware bring‘ ich aus der StadtKühl wird nun der AbendZeige mir den Brunnen,D‘raus du trinkest,Liebes junges Weib!Frau.Hier den Felsenpfad hinauf.Geh voran! Durchs GebüscheGeht der Pfad nach der Hütte,D‘rin ich wohne,Zu dem Brunnen,Den ich trinke.Wandrer.Spuren ordnender MenschenhandZwischen dem Gesträuch!Diese Steine hast du nicht gefügt,Reichhinstreuende Natur!Frau.Weiter hinauf!Wandrer.Von dem Moos gedeckt ein Architrav!Ich erkenne dich, bildender Geist!Hast dein Siegel in den Stein geprägt.Frau.Weiter, Fremdling!Wandrer.Eine Inschrift, über die ich trete!Nicht zu lesen!Weggewandelt seid ihr,Tiefgegrabne Worte,Die ihr eures Meisters AndachtTausend Enkeln zeigen solltet.Frau.Staunest, Fremdling,Diese Stein‘ an?Droben sind der Steine vielUm meine Hütte.Wandrer.Droben?Frau.Gleich zur LinkenDurchs Gebüsch hinan;Hier.Wandrer.Ihr Musen und Grazien!Frau.Das ist meine Hütte.Wandrer.Eines Tempels Trümmer!Frau.Hier zur Seit‘ hinabQuillt der Brunnen,Den ich trinke.Wandrer.Glühend webst duÜber deinem Grabe,Genius! Über dirIst zusammengestürztDein Meisterstück,O du Unsterblicher!Frau.Wart‘, ich hole das GefäßDir zum Trinken.Wandrer.Epheu hat deine schlankeGötterbildung umkleidet.Wie du emporstrebstAus dem Schutte,Säulenpaar!Und du, einsame Schwester dort,Wie ihr,Düstres Moos auf dem heiligen Haupt,Majestätisch trauernd herabschautAuf die zertrümmertenZu euren Füßen,Eure Geschwister!In des Brombeergesträuches SchattenDeckt die Schutt und Erde,Und hohes Gras wankt drüber hin!Schätzest du so, Natur,Deines Meisterstücks Meisterstück?Unempfindlich zertrümmerst duDein Heiligtum?Säest Disteln d‘rein?Frau.Wie der Knabe schläft! —Willst du in der Hütte ruhn,Fremdling? Willst du hierLieber in dem Freien bleiben?Es ist kühl! Nimm den Knaben,Dass ich Wasser schöpfen gehe.Schlafe, Lieber! Schlaf!Wandrer.Süß ist deine Ruh!Wie‘s, in himmlischer GesundheitSchwimmend, ruhig atmet!Du, geboren über RestenHeiliger Vergangenheit,Ruh‘ ihr Geist auf dir!Welchen der umschwebt,Wird in GötterselbstgefühlJedes Tags genießen.Voller Keim blüh‘ auf,Des glänzenden FrühlingsHerrlicher Schmuck,Und leuchte vor deinen Gesellen!Und welkt die Blütenhülle weg,Dann steig‘ aus deinem BusenDie volle FruchtUnd reife der Sonn‘ entgegen!Frau.Gesegne‘s Gott! — Und schläft er noch?Ich habe nichts zum frischen TrunkAls ein Stück Brot, das ich dir bieten kann.Wandrer.Ich danke dir.Wie herrlich alles blüht umherUnd grünt!Frau.Mein Mann wird baldNach Hause seinVom Feld. O bleibe, bleibe, Mann!Und iss mit uns das Abendbrot.Wandrer.Ihr wohnet hier?Frau.Da, zwischen dem Gemäuer her,Die Hütte baute noch mein VaterAus Ziegeln und des Schuttes SteinenHier wohnen wir.Er gab mich einem AckersmannUnd starb in unsern Armen. —Hast du geschlafen, liebes Herz?Wie er munter ist und spielen will!Du Schelm!Wandrer.Natur! Du ewig keimende,Schaffst jeden zum Genuss des Lebens,Hast deine Kinder alle mütterlichMit Erbteil ausgestattet, einer Hütte.Hoch baut die Schwalb‘ an das Gesims,Unfühlend, welchen ZieratSie verklebt;Die Raup‘ umspinnt den goldnen ZweigZum Winterhaus für ihre Brut;Und du flickst zwischen der VergangenheitErhabne TrümmerFür dein BedürfnissEine Hüte, o Mensch,Genießest über Gräbern! —Leb‘ wohl, du glücklich Weib!Frau.Du willst nicht bleiben?Wandrer.Gott erhalt‘ euch,Segn‘ euern Knaben!Frau.Glück auf den Weg!Wandrer.Wohin führt mich der PfadDort übern Berg?Frau.Nach Cuma.Wandrer.Wie weit ist‘s hin?Frau.Drei Meilen gut.Wandrer.Leb‘ wohl!O leite meinen Gang, Natur!Den Fremdlings-Reisetritt,Den über GräberHeiliger VergangenheitIch wandle.Leit‘ ihn zum Schutzort,Vorm Nord gedeckt,Und wo dem MittagsstrahlEin Pappelwäldchen wehrt.Und kehr‘ ich dannAm Abend heimZur Hütte,Vergoldet vom letzten Sonnenstrahl,Lass mich empfangen solch ein Weib,Den Knaben auf dem Arm!