Ein alter Weiſer lehrt, daß Tugend vielerlei,
Doch ſtets ein Mittleres von zweien Aeußern ſei;
Im Weſen ſelber eins, doch von verſchiednen Namen,
Wie viele Schoͤßlinge aus einer Wurzel kamen.
Gerechtigkeit, entfernt von Zu- und Gegenneigung,
Von Vorlieb’ und Mislieb’, Abgunſt und Gunſtbezeigung.
Leutſeligkeit, entfernt von Schmeichelei und Trutz,
Wie Wohlanſtaͤndigkeit von Flitterpracht und Schmutz.
Mannhaftigkeit, entfernt von Trotzigkeit und Zagnis,
Und Tapferkeit, von Furcht und uͤbermuͤth’gem Wagnis.
Freigebigkeit, gleichfern von Geiz und von Verſchwendung;
Beſonnenheit, ſo fern von Argliſt als Verblendung.
Der Glaube, gleich entfernt von Un- und Ueberglauben,
Der nichts dir dringet auf, und nichts ſich laͤſſet rauben.
Die Nuͤchternheit, entfernt von Schlemmerei und Faſten;
Die Ruͤhrigkeit, entfernt von Uebereil’ und Raſten.
Demuth, gleichweit von Stolz und Niedertraͤchtigkeit,
Wie Leibeswohlgeſtalt von Fett und Schmaͤchtigkeit.
Das Mittelmaß iſt gut dem Alter wie der Jugend,
Nur Mittelmaͤßigkeit allein iſt keine Tugend.
Im Mittelmaß vereint ſich zweier Aeußern Kraft,
Doch Mittelmaͤßigkeit iſt beider untheilhaft.